Björn Kern, 1978 geboren, Zivildienst in einer Psychiatrie in Südfrankreich. Studium u.a. am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Stipendien-Aufenthalte in Großbritannien, Italien und Schweden. Seine Bücher wurden u.a. mit dem Brüder-Grimm-Preis, der SWR-Bestenliste und dem Casa-Baldi-Stipendium der Villa Massimo ausgezeichnet. „Die Erlöser AG“ (C.H.Beck) wurde fürs ZDF verfilmt, „Das Beste, was wir tun können, ist nichts“ (Fischer) zum Bestseller. Sein neuer Roman „Solikante Solo“ ist soeben bei Fischer erschienen. Björn Kern lebt im Oderbruch.

Bibliographie

Solikante Solo. Roman Fischer 2021
Im Freien. Fischer 2019
Das Beste, was wir tun können, ist nichts. Fischer 2016
Das erotische Talent meines Vaters. Roman C.H.Beck 2010
Die Erlöser AG. Roman C.H.Beck 2007
Einmal noch Marseille. Roman C.H.Beck 2005
KIPPpunkt. Roman dtv 2001

Björn Kern liest aus Solikante Solo, erschienen im Fischer Verlag.

Textprobe

Frieda öffnete ein Bier, nahm ein Glas aus der golden verspiegelten Rückwand hinter dem Tresen, stellte Antenne Brandenburg leiser, schenkte Himmelspforte, eine rote Fassbrause aus einer kleinen, braunen Glasflasche aus, blieb selbst bei einem Becher Kräutertee. In der Märkischen Einkehr war das, was andernorts so unüberwindbare Schwierigkeiten darstellte, immer einfach gewesen. Hatte man Durst, bekam man ein Bier. (Oder Brause, wenn man gerade trocken war.) Hatte man Hunger, bekam man Schnitzel mit Pommes. Die Frage lautete nicht: Was willst du essen? Sondern: Willst du essen? Jann hatte diesen Mangel an Entscheidungsmöglichkeiten immer geliebt.

Wozu es führte, wenn man von früh bis spät Entscheidun-gen zu fällen hatte, sah man eine Stunde weiter westlich. Es war hinlänglich bekannt, dass die meisten Berliner verrückt geworden waren. Das brachte die Stadt nun einmal mit sich. Rad oder U-Bahn? Café Americano oder Espresso Macchiato? Zuhause bleiben oder ausgehen? Brot und Butter oder Bread and Butter? Gras kaufen oder abwinken? Abgase inhalieren oder Umweg durch den Park? Lidl oder Bio Company?

Almodóvar oder David Wnendt? Kurzstrecke oder Berlin AB? Berlinische oder c/o Berlin? Einstein Stammhaus oder Unter den Linden? Thailändisch oder Indisch? Batthura oder Papadam? Raus an den Wannsee oder nur in den Park? E-Mail oder persönliches Treffen? Mit vierzig noch immer in den Ritter Butzke? Wirklich? Oder lieber ins Watergate? Und wann endlich in den Swinger Club? Davor noch eine Pizza? Lieber Falafel? Insomnia oder Zügellos?

S-Bahn und zehn Minuten laufen, oder Taxi und Quittung? Aufrunden oder richtiges Trinkgeld? Bei der Fahrweise? Und: Kaufen oder mieten? Rauchen oder dampfen? Im Sitzen oder to go? Mit Deckel oder ohne? Tüte dazu? Ständige Vertretung oder Berliner Republik? Einen Kiez weiter nach Osten? Oder ist der auch schon gentrifiziert? Home-Office oder Coworking Space? Ohne Eintritt, aber Caipi zehn Euro, oder mit Eintritt aber Bier aus der Flasche? Schlaflabor oder Dunkelrestaurant? Sex oder Fluoxetin? Diazepam oder One-Night-Stand? Molle mit Korn am Späti oder Finest Whiskey in Schöneberg?

Auch wenn die Beziehung zu Frieda nicht mehr dieselbe war, seit dem Sommer, hierauf konnten sie sich noch immer verständigen: Berlin führte zu psychischen Krankheiten. Oder zu Krebs. Die Berliner hatten einen Trick entwickelt, um das Offensichtliche auszublenden. Sie bezeichneten die Hängengebliebenen und Einsamkeitsverwahrlosten kurzerhand als Originale. So konnten sie über sie lachen, und da sie so schön über sie lachen konnten, über die Berliner Originale, mussten sie sich keine Sorgen machen, mussten sie sich nicht um sie kümmern, konnten sie sie vergessen, sowie sie an ihnen vorbei gegangen waren.

Ja, es hatte sich eingebürgert, sie lustig zu finden, die singenden Berber, die kopfwackelnden Bettler, die aus dem Nichts gellenden Aufschreie in den modrigen U-Bahn-Schächten, die ukrainischen, rumänischen, bulgarischen Prostituierten, die einem folgten, auf dem Parkplatz vorm Möbel Hübner, die Alkoholiker in abgetragenen Anzügen, die mit gebügelten Hunderten zahlten, die Greisinnen, die ihre krebskranken Hunde im Kinderwagen vor sich herschoben, die mit sich selbst sprechenden Frauen, die jederzeit in die Hocke gehen und in die Büsche pinkeln konnten, die Männer mit den blutunterlaufenen Augen, die nach den Sternen griffen und sich dabei auf die Zehenspitzen stellten. Waren die nicht komisch? Waren das nicht Originale?

Ruths Wohnung lag in einem besonders toxischen Viertel, an der Potse, wie sie nicht müde wurde zu sagen, Jann fand das etwas anbiedernd. Weder sie noch er stammten aus Berlin. Er schauderte, als er sich das fadenscheinige Personal vor Augen rief, das rund um die Potsdamer Straße auf seine Auflösung wartete. Kindliche Nutten. Greise Freier. Und andersherum. Dazwischen ein paar gestresste Mütter mit Kinderwagen, die das alles unglaublich normal und unglaublich städtisch fanden, und niemals, niemals etwas auszusetzen hatten, an diesen Berliner Originalen, an dieser Berliner Vielfalt, das gehörte doch zum Leben dazu!