Dietmar Schultke liest aus Zwischen Spreewald & Märkischen Seen, erschienen im Regia Verlag Cottbus.

Textprobe

Seit Wochen herrschte Dauerfrost, ich wollte den Scharmützelsee überqueren, und zwar in seiner längsten Ausdehnung. Eines Januarmorgens packte ich den Rucksack: Kekse, Brot, Schokolade, eine Thermoskanne mit Kaffee und eine kleine Flasche Flasche Rum. Ich zog mir wetterfeste Kleidung an und schnürte die Wanderschuhe, schon verließ ich das Haus.
Am Scharmützelsee angelangt, nahm ich Maß: War der See ein Meer? Soweit ich sehen konnte endlose Weite, die sich mit dem Himmel vereinte. „Ja, dieser See erinnerte an ein Meer, an ein weißes Eismeer.“ In Bad Saarow, dem nördlichsten Ort des Sees, herrscht verträumte Stille. Wohl jedes dritte Geschäft stand leer, der wirtschaftliche Aufschwung ließ auf sich warten, ich ging an der Strandpromenade entlang und bewunderte elegante Villen, die von einstiger Blüte kündeten. Mein Kurort lag im Dornrösschen-Winterschlaf eingehüllt, äußerlich wie innerlich: Die Millionäre zum Wachküssen fehlten. Der Bahnhof zeigte sich baufällig, genauso trostlos das Bahnhofshotel. Geld war Mangelware, ebenso die notwendige Arbeit. Ich gehörte damals zu jenen 20 Prozent von Arbeitslosen, die sich in dieser Gesellschaft überflüssig vorkamen, einfach nicht gebraucht wurden. Wohl auch deshalb trieb es mich aufs Märkische Meer: Mein Ab-Bild der eisigen Arbeitswüste verlangte nach natürlicher Bestätigung. War der See ganz und gar zugefroren? Wie dick war das Eis? Würde es mich tragen?… Ich wollte bei der Wanderung meine Isolation spalten, das Eis sollte krachen und meine Seele hell aufjubeln. Ich hörte meine Freuden-Seufzer auf dem Meer, in dem eine leise Spur des Wahnsinns nachklang: dort, wo mein Ruf ins Echo kippte, diese Leere von innen und außen: Wo sie aufeinander prallten, wartete das gesternte Auge.
Ein eisiger Wind ließ mich mit zugekniffenen Augen wandern. Ja, das wollte ich haben, endlich bekam ich den Mund voll, endlich fühlte ich den Raureif an meinen Bartstoppeln wachsen. Ich schritt zügig voran, meine Schläfen hämmerten, ich war selig… Mit jedem Schritt, den ich voran setzte, spürte ich meine Ankunft in der Freiheit, das Loslassen von den Alltagssorgen. Die Einsicht, dass einem das Leben etwas wert ist, weil man lebt, ganz ohne einen Grund. Jahrhunderttausende überlebte unsere Spezies als Jäger und Sammler, ich eroberte mir zumindest eine Spur davon zurück. Bei meiner Wanderschaft suchte ich Tuchfühlung zum rechten Ufer, in den Minuten absoluter Verlorenheit zwischen Nebel, Wind und Eis benutzte ich einen Kompass… Der Gegenwind löste die eingeklemmten Nerven, meine Sinne öffneten sich wie ein starkes Segeltuch, welche perfekte Balance…
Nach gut zwei Stunden erreichte ich das südliche Ufer, die nächstgelegene Ortschaft war Wendisch Rietz. Als ich den Fuß auf den Boden setzte, spürte ich eine Weichheit des Bodens, als wäre die gefrorene Erde ein Schwamm. […]
Der Rückweg zeigte sich tückischer, denn das Eis zeigte Brüche… Nach weiteren zwei Stunden erreichte ich den Ausgangspunkt… Noch gibt es Hoffnung auf bessere Zeiten, der Weg der Menschheit geht aufwärts, solange wir den Atemzügen der Natur verbunden bleiben, solange wir groß sehen, was uns beschwert, mutig sind und manchmal auch ein Risiko wagen.

Bibliographie

„Keiner kommt durch“. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer. 1945–1990. 6. erweiterte Auflage. Aufbau-Verlag, Berlin 2021
„Die Grenze, die uns teilte“ – Zeitzeugenberichte aus Ost und West. 2. Auflage. Köster, Berlin 2014,
Meine Brandenburger Jugend. Mit Beiträgen von Iring Fetscher und Günter Wallraff. Köster, Berlin 2006
Zusammen mit Die Jungen Autoren (i. A.) für die Heimat: „… einmal Spreewald, bitte!“ Regia-Verlag, Cottbus 2008
Ukrainski Blues. Streifzüge durch die Ukraine. Regia-Verlag, Cottbus 2009
Zusammen mit Die Jungen Autoren (i. A.) für die Heimat: Zwischen Spreewald und Märkischen Seen. Regia-Verlag, Cottbus 2010
Zusammen mit Die Jungen Autoren (i. A.) für die Heimat: Von Märkern, Rittern & Klosterbrüdern. Regia-Verlag, Cottbus 2011

Am 24. März 1967 erblickte ich das Licht von Beeskow, Mark Brandenburg. Ich besuchte die Ludwig-Leichhardt Oberschule Trebatsch. Seit dem zehnten Lebensjahr unterhielt ich eine Brieffreundschaft mit der in New York lebenden Elisabeth Rosner. Die Briefe weckten mein Fernweh, ich wollte das „Einweckglas“ DDR verlassen, doch erst mit dem Fall der Mauer erfüllte sich meine Reisefreiheit. Nach der Schule begann ich eine Lehre zum Zerspanungsfacharbeiter für Bohrwerkstechnik. Von 1987 bis 1988 diente ich unfreiwillig als DDR-Grenzsoldat an der innerdeutschen Grenze; ich hoffte auf eine Fluchtchance in den Westen, doch ich wurde nur im Hinterland auf dem Brocken im Harz eingesetzt. Der perfide Überwachungsapparat und der Schießbefehl verhinderten meine Flucht. An der Grenze bewachte ich meine eigene Gefangenschaft, es war eine furchtbare Zeit. Wegen eines Verstoßes gegen die Dienstwaffenordnung (ich ließ nach einer Grenzschicht die Kalaschnikow im Wald zurück) wurde ich vom Gefreiten zum Soldaten degradiert. Die Degradierung war mein glücklichstes Erlebnis bei den Grenztruppen. Zwischen 1988 und 1990 arbeitete ich als Krankenpflegehelfer in Beeskow und Eisenhüttenstadt. Im Winter 1989/1990 reiste ich über das Notaufnahmelager Marienfelde nach Westdeutschland aus. 1990 lebte ich ein halbes Jahr in der Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen. Anschließend bereiste ich für mehrere Monate die USA und Kanada. Danach holte ich in Hannover das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und belegte ein Studium der Politikwissenschaften, Stadt- und Regionalplanung, Erziehungswissenschaften und Psychologie an den Universitäten Duisburg und Dortmund, sowie Gaststudien am Occidental College (USA) und an der Karls-Universität Prag. 1994 war ich beim Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen in New York tätig und 2000 auf der EXPO in Hannover. 1999 erschien mein erstes Buch „Keiner kommt durch – Die Geschichte der innerdeutschen Grenze und Berliner Mauer“ im Aufbau-Verlag Berlin. Seit 2001 engagiere ich mich in der Jugendarbeit. Ende 2006 übernahm ich die Stelle des Jugendkoordinators im Amt Unterspreewald. 2008 organisierte ich eine Schreibwerkstatt für Jugendliche, sie gaben sich den Namen „Junge Autoren im Auftrag für die Heimat“. Aus den Exkursionen in unserer Heimatregion, dem Spreewald, entstanden Reiseberichte, die 2009, 2010 und 2011 als Buch erschienen. Besonders gern präsentiere ich meine Bücher auf Lesereisen vor Jugendlichen im In- und Ausland. 2010 war ich damit beim Goethe-Institut in Australien zu Gast. Zum 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls (2014) veranstaltete ich eine Lesetour unter dem Motto: „Europa grenzenlos“. Sie führte mich nach Tschechien, Österreich, die Schweiz und die Ukraine. Besonders für Bürger in der Ostukraine (Charkow), die zum Teil unter den Folgen des Teilungskrieges und der Teilungsbestrebungen der Separatisten litten, waren das anregende Informationen und Diskussionen. 2016 bereiste ich im Rahmen meiner Vortragstour „Fluchtgeschichte(n)“ Japan, und hielt Vorträge an der OAG Tokyo (in Kooperation mit der Japanisch-Deutschen Gesellschaft) sowie an der Deutschen Schule Tokyo-Yokohama. Die Asientour wurde 2017 mit Vorträgen in Taiwan und Südkorea fortgesetzt, unter anderem an der Deutschen Schule Seoul und der Europäischen Schule Tapei. Von 2017 bis Anfang 2020 arbeitete ich als Referent für historische Bildung im Landkreis Dahme-Spreewald. Aktuell bin ich u.a. mit einem Buchprojekt über die Lebensgeschichte meiner Mutter Erika beschäftigt.