•Autor
•geb. 1956
•lebt in der Niederlausitz
•Beruf Dipl. Bibliothekar (FH)
•Studium am Leipziger Literaturinstitut
•Tätigkeiten: Soldat auf Zeit, Gießereiarbeiter, Bibliothekar, in einem Jugendklub, fester freier Mitarbeiter einer Tageszeitung, in einem Umweltverband und im IT-Service

Bibliographie

  • „Unten am Fluss: Geschichten vom späten Ende der Kindheit“, Dingsda-Verl., 2002; stark erweiterte Neuausgabe u.d.T. „Unweit vom Fluss“,2017
  • „Heimkehr ins Labyrinth“, drei Einakter, 2003 uraufgeführt bühne 8 Cottbus;
  • „Salamander im Schnee“, Schauspiel, 2008 uraufgeführt bühne 8 Cottbus;
  • „Der Lavagänger“, Roman, Aufbau-Verl., 2009, TB 2010 und als Hörbuch im Audio-Verlag, sowie 2011 u.d.T. „Lavaløperen“ bei Gyldendahl, Norwegen
  • „Ein wildes Schwein mit Namen Wilfried“, Kinderbuch, Edition Vogelweide im Selbstverl., 2018
  • „Ariadnes Faden“ Einakter, 2018 uraufgeführt bühne 8 Cottbus;
  • „Der Mongole“, Roman, Müry-Salzmann-Verlag, 2018
  • „Kupfersonne“, Roman, Müry-Salzmann-Verl., 2020
  • „Westöstliche Couch: Ein literarisches Alphabet“ Kathrin Groß-Striffler u. Reinhard Stöckel, Müry-Salzmann-Verlag, 2020

Reinhard Stöckel liest aus Westöstliche Couch: Ein literarisches Alphabet, Kathrin Groß-Striffler u. Reinhard Stöckel, erschienen im Müry-Salzmann-Verlag.

Textprobe

H wie Heimat

Herr Decker warf die Arme in die Luft, schwang sie im Rhythmus der Musik auf und ab, hin und her. Es sah aus, als verjage er Mückenschwärme, er nannte es Dirigieren. Seine Arme waren braungebrannt, nur dort, wo sie in den kurzen Ärmeln seines Sommerhemdes verschwanden, leuchtete weiße Haut hervor. Bauernarme, nannte das meine Oma. Herr Decker war aber Lehrer. Er stand vor der Klasse – eigentlich vor drei Klassen, eine Klasse je Bankreihe – wir sangen: „Die Heimat hat sich schön gemacht…“ Zwei Bänke vor mir stand Marion, richtete ihre Haarspange. „…und Tau blitzt ihr im Haar.“ Ich vergaß zu singen.

Als wir ausgesungen hatten und uns setzen durften, fragte Herr Decker: Wer von euch will denn ein junger Naturforscher sein? Fast alle meldeten sich, nur ich nicht, ich war gerade dabei, ein Zettelchen für Marion zu schreiben. Herr Decker sagte: Stephan, ich sehe alles! Da hob auch ich die Hand.

Dann klatschte Herr Decker zweimal in die Hände und rief: Auf, Kinder! „Frisch das Geheimnis abgelauscht!“ Heimatkunde!

Wir folgten dem Bachlauf durchs Dorf hinunter zu den Sumpfwiesen an seinen Ufern. Dort sollten wir eine neue Pflanze kennenlernen. Wir sahen die Blume schon von weitem, sie leuchtete aus dem saftig grünen Gras.

Oh, wie schön, sagten die Mädchen und riefen: Herr Decker, Herr Decker, dürfen wir uns einen Strauß pflücken?!

Nein, sagte Herr Decker.

Bitte Herr Decker, bitte, bettelte Ines, meine Oma hat heute Geburtstag.

Nichts da, sagte Herr Decker bestimmt, Punkt und Ende. – Und: Wer kennt diese schöne Blume?

Hahnenfuß?, tippte ich.

Nee, das ist Löwenzahn!, sagte Erwin.

Sumpfdotterblume, sagte Marion.

Sag ich doch, Unkraut, sagte Erwin.

Sumpfdotterblume ist richtig!, sagte Herr Decker. Er meinte außerdem, dass diese Pflanze immer seltener werde, ja sie sei regelrecht vom Aussterben bedroht. Die Republik werde sie sicher bald unter Schutz stellen.

Ach, sagte Erwin, Unkraut vergeht nicht.

Auf dem Heimweg rief Erwin: Dotterblume – Lottermume –Modderkrume! Und zeigte lachend auf Marions gelbe Bluse.

Ich stellte Erwin ein Bein. Er schlug sich das Knie auf. Herr Decker, der alles sah, blickte mich strafend an und sagte: Ich soll keine Beine stellen. Hundert Mal bis Montag.

Ich nickte.

Ende Mai lud mich Marion zu ihrem Geburtstag ein. An diesem Tag hatte uns Herr Decker für die ersten beiden Stunden schulfrei gegeben, er hätte einen wichtigen Termin in der Stadt. So konnte ich meinen Plan in aller Ruhe, wie ich glaubte, wahrmachen. Frühmorgens fuhr ich mit dem Fahrrad zu den Wiesen am Unterlauf des Baches. Ich wollte für Marion heimlich ein paar Sumpfdotterblumen pflücken und malte mir aus, wie sie mich dafür anhimmeln würde.

Doch von weitem schon hörte ich Maschinenlärm und sah, als ich ankam, einen Bagger, der quer durch die Wiesen einen Graben zog. An anderer Stelle waren einige Arbeiter damit beschäftigt, das Gebüsch am Rand des Baches zu roden. Ein mit Erde beladener Trecker fuhr an mir vorbei, über die Seitenblanke rutschten einige Grasbatzen, dazwischen blitzte es gelb. Ich stellte mein Fahrrad am Straßenrand ab und bückte mich eben nach einem herabgefallen Strunk Sumpfdotterblumen, an dem noch eine unversehrte Blüte hing.

In diesem Moment knatterte auf dem Feldweg ein Moped heran. Es war Herr Decker, er kam offenbar aus der Stadt, hielt an, stieg ab und eilte auf mich zu. Jetzt, dachte ich, hat er mich, und ließ ratlos die Hand mit der Sumpfdotterblume sinken. Aber Herr Decker lief an mir vorbei und rannte über die Wiese zum Bagger hinüber, im Lauf zog er ein Blatt Papier aus der Tasche, winkte damit und rief immer wieder: Anhalten, anhalten!

Der Bagger stoppte, und der Fahrer wies hinüber zu den Arbeitern am Bach. Einer, offenbar der Brigadier, las Deckers Papier, kratzte sich am Kopf, dann hob er den Arm und wies zum Bauwagen: Pause!, hörte ich ihn rufen.

Als Decker, erleichtert, wie mir schien, auf sein Moped zustapfte, hielt ich ihm die Blume hin: Na, vielleicht kann man die wieder einpflanzen.

Decker legte seine Hand auf meine Schulter, rieb sich das Kinn und sagte: Wer weiß…, aber versuch‘s mal am Dorfteich damit.

Zu Beginn des Unterrichts brachte mir Herr Decker ein Einweckglas mit Wasser drin, und ich steckte die gerettete Sumpfdotterblume hinein. Dann sagte Herr Decker: So, jetzt alle mal herhören! Ich habe da was verwechselt. Das hier, hob das Glas in die Höhe, ist keine Sumpfdotterblume. Das ist eine Trollblume! Alle Blumen da unten am Bach sind Trollblumen! Klar!? Und die sind streng geschützt, strenger als die Sumpfdotterblume. Die Trollblume ist nämlich vom Gesetz geschützt, vom Naturschutzgesetz der DDR. Dass das mal klar ist. Da darf man die Wiesen am Bach nicht trockenlegen. – Ja, Ines?

Ines stand auf und sagte: „Der Heimat Pflanzen und Getier behütet unsre Hand!“

Erwin rief leise: Streber!

Später hatten wir noch eine Stunde Rechnen. Mitten in der Dreierreihe tat es einen Rums, und Herr Decker war verschwunden. Ich reckte den Hals und sah Herrn Decker auf den Dielen liegen. Die Knirpse von der Ersten lachten, weil sie dachten, der Lehrer mache einen Spaß. Da war Erwin schon hinüber in die Lehrerwohnung gerannt und kam Augenblicke später mit Frau Decker zurück.

Die sagte: Ich glaub’, er muss ins Krankenhaus, geht nach Hause, Kinder!

Draußen drückte ich Marion das Einweckglas in die Hand: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann sagte sie trotzig: Ist aber doch eine Sumpfdotterblume!

Am späten Nachmittag standen Marion, Ines, Erwin und ich am Teich und blickten auf die ehemalige Sumpfdotterblume. Wir hatten den Strunk eingepflanzt, Erwin hob mit dem Spaten noch einen Batzen Teichschlamm aus dem Wasser und packte ihn sorgfältig um die Pflanze. Entenscheiße, sagte er, ist guter Dünger. Und dann leise: Unkraut vergeht nicht.

Wir wussten alle, dass er damit nicht nur die Blume meinte.

Herr Decker war lange krank. Zucker, sagte Erwin und kaute auf seiner Lakritz. Die letzten Wochen vor den Ferien unterrichtete uns Herr Knesel. Auch Herr Knesel führte uns den Bach hinunter zu den Wiesen. Dort waren die Arbeiter wieder zu Gange. Der Brigadier erkannte mich offenbar, zuckte die Schultern und zeigte mit dem Finger nach oben. Herr Knesel hob gleichfalls den Finger und sagte: Reichlich ernten werden wir wo heut noch Sumpf und Sand. Unsere letzte Aufgabe in Heimatkunde war dann ein Hausaufsatz: Weizen und Kuh in trockenem Schuh!